Es stellt sich schnell heraus, dass Martinique ganz anders ist, als ich mir das in den letzten Monaten vorgestellt hatte. Größte Insel hier, mit über 400.000 Einwohnern, modernes Verwaltungszentrum, französisch chic. Das weckte gewisse Vorstellungen. Die Wirklichkeit sieht indes ganz anders.
Zum Glück.
Denn als wir morgens vor der Insel nach 50-stündiger Überfahrt in absoluter Windstille so vor uns hintreiben, lassen wir erstmal unsere Blicke schweifen. Am Fuße des Mount Pelée erstrecken sich üppige Plantagen, oben hüllt sich der Berg in weiße Wolken. Dahinter lässt sich ein weiteres, viel größeres Gebirge erkennen. Mit zerklüfteten, unglaublich steilen Bergspitzen, dicht überwuchert im dunkelsten Grün. Am Ufer liegt St. Pierre. Ein Städtchen mit zwei parallel verlaufenden Straßen, einer Kirche, dahinter eine streng empor ragende Felswand, saftig bewachsen mit Regenwald. Das Meer ist kristallklar, Strand und Grund sind aus grauer Vulkanasche. Die verleiht dem Wasser eine ganz eigene, magische Farbe. Hier lassen wir unseren Anker fallen. Direkt vor der Stadt. Es gibt sowieso nur einen kleinen Vorsprung, der gerade noch flach genug ist zum Ankern, dahinter fällt das Meer dann steil bergab. Das ist ungefähr so, als würde man seinen Anker in eine Regenrinne werfen. Das Ding muss sitzen, sonst rutscht der Anker in die Tiefe…
Und wir sind sofort blitzverliebt. Die ganze Szenerie ist so unglaublich bezaubernd. Der majestätische Vulkan, der saftige Urwald, das pittoreske Städtchen. Bis heute weiß ich nicht, ob das nur an den Strapazen der Überfahrt lag und das Adrenalin und die Müdigkeit im Morgensonnenlicht alles noch viel schöner aussehen ließen. Aber der Glanz verblasst auch die nächsten Tage nicht.
St. Pierre hat eine ganz eigene und ergreifende Geschichte, die am 8. Mai 1902 ein trauriges Schicksal ereilt. Das bis dahin blühende „Paris der Karibik“ verwandelt sich in wenigen Minuten in eine glühende Lava-Hölle. Morgens, um zwei Minuten nach Acht, bricht der Vulkan aus. Ein Feuerball aus super heißem Gas schießt den Berghang hinab und überflutet die gesamte Stadt. Die Energie, die dabei frei gesetzt wird, ist größer als bei einer Atombombenexplosion. 12 vor Anker liegende Schiffe gehen selbst draußen noch auf dem Meer in Flammen auf und sinken vor der Stadt. Alle 30.000 Einwohner sind sofort tot. Bis auf eine Ausnahme…
Denn es gibt einen einzigen Überlebenden. Im Gefängnis nämlich sitzt ein wegen Mordes festgenommener Matrose namens Louis Cyparis. Als die tödliche Gasflut draußen alles und jeden bei lebendigem Leibe grillt, sitzt er hinter meterdicken Gefängnismauern. Zwar erleidet auch er noch schwere Verbrennungen, überlebt aber trotzdem. Als wir die Ruinen seiner Zelle besichtigen, stimmt einen das schon nachdenklich. Da hat der offensichtlich schlechteste Mensch der Stadt das Inferno als Einziger überlebt, während tausende unschuldige Männer, Frauen und Kinder sterben mussten. Wo bleibt da die Gerechtigkeit?
Die Stadt selbst hat sich nie wieder ganz von diesem Unglück erholt. Selbst nach über 100 Jahren stehen überall Ruinen, verkohlte Mauerreste und verwaiste Grundstücke. Eigentlich klar, denn ganze Familien wurden ausgelöscht, keine Erben kamen, die etwas hätten wieder aufbauen können. Die Verwaltung versucht krampfhaft dieses schreckliche Erbe zu beschützen und gräbt an vielen Stellen der Stadt Häuser und Hafenanlagen wieder aus. Überall stehen an diesen Ausgrabungsstätten Schilder der Europäischen Union, die die Grabungen und Restaurationen unterstützt. Allerdings sind eigentlich alle Arbeiten in der Stadt eingestellt. Die EU hat schon lange kein Geld mehr geschickt. Erst waren es Probleme in Griechenland, wie es hieß, dann Ärger mit Zombiebanken in Spanien oder woanders. Jetzt muss man gerade russische Schwarzgeld-Konten auf Zypern retten – für ein anständiges Gedächtnis an 30.000 Tote ist da natürlich kein Geld mehr da.
Aber auch dieser abgebrochene Aufbau macht St. Pierre für uns heute so ganz besonders. Wir gehen viel wandern. Durch herrliche Landschaften. Alles blüht wieder, alles wächst wieder, alles duftet herrlich. Wir wandern zu einer Rum-Destillerie und können uns vom Zuckerrohrschnitt bis zum fertig gebrannten Rum alles vollkommen unkompliziert angucken, ohne das uns irgendwer behelligt. Auf unseren Wanderungen pflücken wir Orangen, Zitronen, Grapefruits, Mangos, Auberginen und Paprikas. Und so eine Orange schmeckt hier noch, wie eine Orange eigentlich schmecken sollte. Von den Tomaten will ich erst gar nicht anfangen zu schwärmen…
Dann werden wir neugierig auf die Hauptstadt Fort de France. Schon allein der Name…
Da stellt man sich vor: Drehscheibe des Handels, internationaler Verkehrsknotenpunkt, kulturelles Zentrum, abgefahrene Clubs. Hier muss es doch dieses moderne, mondäne Martinique geben, das ich mir vorgestellt hatte. Aber auch hier: Fehlanzeige. Wir ankern direkt vor der Stadt, vor dem alten Fort, das die französische Armee dieser „Grande Nation“ noch immer benutzt. Zwar kommt ein gewisses urbanes Feeling auf, weil wir eigentlich das erste Mal vor einer so richtig großen Stadt ankern, aber Fort de France selbst ist genauso karibisch wie alles andere hier und nicht europäischer und schon gar nicht „Paris-like“. Irgendwie scheint die Stadt zwischen den 80er und 90er Jahren stecken geblieben zu sein. Diana-Shopping? Fehlanzeige. Die Schaufenster-Auslagen der wenigen Boutiquen erinnern eher ans frühe Prag der Achtziger als an Paris 2013. In der Gallerie Lafayette, deren Name so viel verspricht, fühlt man sich fast wie im Woolworth-Kaufhaus einer Ruhrpott-Vorstadt in Mitten der Siebziger. Zugegeben – das alles hat seinen absoluten Charme, ist aber halt so ganz anders, als ich´s mir vorgestellt hatte.
Wir segeln weiter Richtung Süden. Nach Anse Mitan. Ein gigantischer Hotelbau des Club Med empfängt uns, der allerdings nicht mehr genutzt wird und verfällt. Der Anleger davor wurde vom letzten Hurricane dann endgültig zerstört. Die Hotelruine hüllt die ganze Bucht in eine ganz besondere Atmosphäre. Alle kleineren Hotels drum herum scheinen wie in einem Dornröschenschlaf zu liegen. Ab und an sieht man mal einen rosa-gebratenen Touri. Ansonsten hat das ganze irgendwie Ostsee-Feeling, aber in der Nachsaison. Wir gehen ins schöne Hinterland wieder wandern und stärken unsere schwachen Seebeine. Dabei ankert neben uns schon die ganze Zeit ein Boot aus Hamburg. Abends kommen die beiden rüber und laden sich quasi selbst auf unser Boot ein. Die beiden heißen Jörn und Renate, was natürlich gerade für mich eine gewisse beklemmende Situationskomik hat. Und Jörn und Renate sind dann auch noch seit Jahren in der Karibik „hängen“ geblieben. Nun sind sie schon seit über vier Wochen hier vor Anse Mitan und finden´s toll… Gott, was machen diese Leute bloß den ganzen Tag hier?
Wir segeln weiter Richtung Süden. Nach St. Anne. Was eigentlich ein entspannter Segeltag hätte werden sollen, entpuppt sich schnell als echter Kampf. Das erste Mal haben wir so richtig mit starker Strömung und Drift zu kämpfen. Der Wind kommt dazu noch ungünstig. Diana steuert 120 Grad Richtung Ost „Kurs durchs Wasser“, hoch, hoch am Wind – unser tatsächlicher „Kurs über Grund“ ist aber eher 160 Grad. Also fast schon Süd. Eine ganze Herde komischer Wale beäugt uns kritisch bei dieser gigantischen Abdrift. Wir kämpfen und kreuzen und irgendwann spätnachmittags geben wir auf und motoren mit voller Fahrt gegen diese Mörderströmung. Und machen gerade mal 3 Knoten Fahrt! Siegfried, unser alter Diesel, gibt sein Bestes und ist zwei Tage später immer noch warm. Bei einbrechender Dunkelheit erreichen wir dann aber doch noch St. Anne.
Und das stellt sich als tolles, kleines Dörfchen heraus. Wir haben Glühwürmchen an Bord, gehen wieder tolle Buchten mit Sandstränden erwandern, essen abends in einer engen Seitengasse für ganz kleines Geld ganz viele leckere Accras mit Kabeljau und genießen das typisch französische Karibik-Flair. So ist also Martinique – und genau so lieben wir es.
Doch wie immer geht irgendwann jede schöne Zeit zu Ende und die Arbeit ruft. Unheil hat sich angekündigt: Hilfe, die Schwiegereltern aus dem Schwabenländle kommen zu Besuch!!! Diana freut sich natürlich tierisch. Vorher heißt es aber fleißig sein.
Wir ankern um nach Le Marin, zwischen ungelogen 1.000 anderen Segelbooten und bunkern fast eine Woche lang Palettenweise Bier, Wein, Wasser, Wurst, Fleisch und Käse, denn wir treffen die beiden Schwaben auf St. Lucia und da ist alles teurer und nicht so schöööööön französisch… 😉
Salut Martinique, je t´aime!